Studie über die Zukunftspläne junger Erwachsener

Die Soziologin und Geschlechterforscherin Karin Schwiter hat die Zukunftspläne junger Frauen und Männer untersucht und kommt zu dem Schluss: Das Primat der Individualität steht bei jungen Erwachsenen an vorderster Stelle, verbreitet ist die Meinung, dass jede/r seines Glückes eigener Schmied sei. Trotz dieser individualisierten Lebenshaltung orientieren sich die meisten von ihnen an fortbestehenden Geschlechternormen.

Wie planen junge Erwachsene ihr Leben? Welche Bedeutung hat Erwerbsarbeit? Was sind ihre Vorstellungen von Vaterschaft, Mutterschaft und Familie? In ihrem Promotionsprojekt Lebensentwürfe. Junge Erwachsene im Spannungsfeld zwischen Individualität und Geschlechternormen“ hat Karin Schwiter junge, kinderlose Erwachsene aus der deutschsprachigen Schweiz interviewt und herausgefunden: Junge Erwachsene verstehen sich heute als einzigartige Individuen mit je eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Präferenzen. Sie betrachten sich als unabhängig von Anderen, unabhängig von der Gesellschaft und unabhängig von ihrem Geschlecht. Lebensplanung gilt folglich als rein individuell und wird als Abfolge von freien Entscheidungen zwischen vielfältigen Optionen beschrieben. In den Augen der jungen Erwachsenen muss jede und jeder Einzelne die persönliche Zukunft eigenverantwortlich planen.

Beruf und Familie

Gemäss den Interviewten gilt es, einen Beruf zu finden, der zu den eigenen Fähigkeiten und Präferenzen passt. Jeder und jede ist selbst dafür verantwortlich, den eigenen Bildungsrucksack zu füllen, Diplome und Zertifikate zu erwerben und das eigene Wissen mit Weiterbildungen aktuell zu halten. Sämtliche Konsequenzen ihrer beruflichen Entscheidungen schreiben die jungen Erwachsenen sich selbst zu: Wer einen Beruf wählt, der auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt oder schlecht bezahlt ist, wer aus dem Berufsleben aussteigt oder es verpasst sich weiterzubilden, ist selber schuld.

Dieselbe Argumentationslogik gilt auch für die Familiengründung. Gemäss den jungen Erwachsenen ist Kinder haben eine freie Wahl und Privatsache. Mit der Realisierung ihres Kinderwunsches haben Eltern auch die Verantwortung für sämtliche Konsequenzen dieser biographischen Entscheidung. Die Befragten äussern wenig Verständnis für Väter und Mütter, die Mühe bekunden, Beruf und Familie zu vereinbaren. Wer sich keine Zeit für die Kinder nehmen wolle, hätte ja keine haben müssen. Vereinbarkeitsprobleme gelten als individuelles Unvermögen, die richtigen Prioritäten im Leben zu setzen.

Geschlecht

Auffallend ist, dass die gesamte Lebensplanung als geschlechts­unabhängig begriffen wird. Mit anderen Worten: Ihre Pläne und Wünsche führen die jungen Erwachsenen auf nichts anderes als auf ihre individuellen Präferenzen zurück. Trotz dieses Individualitätsanspruchs greifen die jungen Erwachsenen jedoch auf bestehende Geschlechternormen zurück. Meistens ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne diese als solche zu thematisieren.

Besonders deutlich wird dies in Aussagen zur familialen Arbeitsteilung: Die jungen Erwachsenen grenzen sich dezidiert vom Ernährer-Hausfrau-Modell ihrer Elterngeneration ab. Die Arbeitsteilung in der Familie sei heute frei wählbar und jedes Paar solle die eigene Familie so gestalten, wie es seinen Präferenzen entspreche. Schwiter zeigt auf, dass diese Freiheitsideale jedoch auf einer traditionellen Zuschreibung von Mutterschaft und Vaterschaft basieren. Das heisst, die jungen Erwachsenen gehen unhinterfragt davon aus, dass für Väter die Beteiligung an der Familienarbeit durch den Beruf bestimmt wird. Für Mütter sind es umgekehrt die Bedürfnisse der Kinder, die über ihre Beteiligung am Erwerbsleben bestimmen.

Diese Zuschreibungen beeinflussen biographische Entscheidungen bereits lange vor der Familiengründung. So überlegen sich zum Beispiel vornehmlich Frauen, ob eine berufliche Weiterqualifikation angesichts einer baldigen familienbedingten Einschränkung der Erwerbstätigkeit für sie noch lohnenswert sei. Männer dagegen planen in ihren berufsbezogenen Entscheidungen meist eine langfristige, ununter­brochene und vollzeitliche Erwerbslaufbahn.

Fazit: Privatisierung der Geschlechterverhältnisse?

Karin Schwiter interpretiert die heutige individualisierte Lebensplanung als Effekt einer neoliberalen Gesellschaft. Neoliberalismus zeichne sich dadurch aus, dass er eine kollektive Verantwortung für gesellschaftliche Probleme und Risiken zurückweist und dagegen die Autonomie der Einzelnen betont. Das hat zur Folge, dass Menschen sich sämtliche Folgen ihres Handelns selbst zuschreiben. Für Geschlechterverhältnisse bedeutet dies: Auf der einen Seite eröffnen die Freiheit und gleichzeitig der Zwang, das eigene Leben in Eigenregie zu planen, Spielraum für Abweichungen von vorgegebenen geschlechtsspezifischen Lebenswegen. Durch die „Herrschaft des Individualitätspostulats“ wird nicht mehr erwartet, dass Menschen qua ihres Geschlechts einen bestimmten Lebensweg verfolgen. Geschlecht verliert dadurch seine Legitimation als soziales Ordnungsprinzip. Auf der anderen Seite führt das Primat der Individualität dazu, dass fortbestehende Geschlechternormen als Resultat individueller Präferenzen gedeutet werden: Die gesellschaftliche Einbettung der bestehenden Geschlechterverhältnisse wird vollständig ausgeblendet – sie werden als reine Privatsache wahrgenommen. So wird beispielsweise die Vereinbar­keit von Familie und Beruf nicht als gesellschaftliches Problem verstanden, das es zu lösen gilt, sondern als unveränderliche Notwendigkeit, mit denen sich all jene individuell zu arrangieren haben, welche die entsprechenden Lebenswege gewählt haben. Schwiter kommt zu dem Schluss: Die individualisierte Lebensplanung naturalisiert das „Gesellschaftliche“,  bewirkt eine Privatisierung der Geschlechterverhältnisse und immunisiert fortbestehende Geschlechternormen und -ungleichheiten gegen Kritik.

Das Buch von Karin Schwiter erscheint im Mai 2011 bei Campus Verlag: "Lebensentwürfe - Junge Erwachsene im Spannungsfeld zwischen Individualität und Geschlechternormen"

Interviews und Zeitungsartikel

Wissenschaftliche Publikationenzum Projekt sind auf Karin Schwiters Homepage verfügbar.