Ausgangslage

Tötungsdelikte in Paarbeziehungen, in der Familie und unter Verwandten erwecken in der Öffentlichkeit regelmässig Aufmerksamkeit. Sie werden in den Medien als «Beziehungsdelikt», «Familiendrama», «Ehestreit» oder auch als «rasende Eifersucht» ausführlich verhandelt. Dagegen wird dem Thema in der institutionell behördlichen Debatte wenig Beachtung geschenkt: Kriminalstatistiken reflektieren z. B. die Beziehung zwischen Tatpersonen und Opfern nicht und Tötungen im sozialen Nahraum sind kaum Gegenstand des Kriminalitätsdiskurses. Ebenso sind sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Themenbereich in der Schweiz wie in Europa selten. Vor allem stehen Forschungen zu den institutionellen Deutungs- und Bearbeitungsprozessen solcher Vorkommnisse aus. Zurzeit ist festzuhalten, dass fundiertes, qualitatives Wissen weitgehend fehlt. Es ist wenig bekannt, welche Relevanzstrukturen die behördliche Problemdefinition prägen und wie die Bearbeitungsformen von Polizei und Strafverfolgungsbehörden bei Tötungsdelikten im sozialen Nahraum aussehen.

Vorgehen und Fragestellung

Die qualitativ-empirische Studie untersucht anhand des polizeilich-justiziellen Aktenmaterials die behördliche (Re-)Konstruktion von Tötungsdelikten im sozialen Nahraum, der Vorgeschichte und der Beziehung der Beteiligten. Wie wird die Tatsache naher Beziehungen in die Aufarbeitung eingebracht? Welche Bedeutung haben Geschlechter- und Rollenkonzeptionen in der institutionellen Sicht? Welche Bilder von Beziehung, Partnerschaft, Familie und Verwandtschaft finden Eingang in die Akten? Wie wird dem Tötungsdelikt allfällig vorangegangenes Gewalthandeln respektive genereller: wie wird die Vorgeschichte thematisiert? Wie werden diese Aspekte interpretiert und gedeutet und in welchen Zusammenhang werden sie mit dem Tötungsdelikt gebracht? Das heisst, es geht darum in Erfahrung zu bringen, welche Diskursfelder in die Bearbeitung Eingang finden und welche Deutungsmuster sich in den Akten als bedeutsam erweisen.

Qualitativ-empirische Arbeit: Materialgrundlagen und Methode

Grundlage für die Analyse sind Dossiers zu registrierten, versuchten und vollendeten, Tötungen in Paarbeziehungen, in Familien- und Verwandtschaftskonstellationen, Tötungen von Kindern durch Familienmitglieder sowie Tötungsdelikte in engen Beziehungen, in denen nichtverwandte Drittpersonen involviert sind. Der methodische Ansatz der Grounded Theory erlaubt es, anhand der dokumentierten Aktenrealität – den sogenannten Polizeischlussberichten – relevante Deutungsmuster und Diskursfelder herauszuarbeiten, die von Polizei und Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit den Geschehnissen aktiviert und hergestellt werden.

Wichtigste Resultate

Das in der Homizidforschung selten gewählte Verfahren – die Fokussierung der Analysen auf Polizeitexte und die Aktenrealität – erweist sich als erfolgreich und ergiebig. Es gelingt, Verstehenskonzepte der Polizei herauszuarbeiten und zu entschlüsseln. Als zentrales Resultat zeigen wir den Prozess auf, wie Tatpersonen und Opfer in ihren spezifischen Rollen hervorgebracht werden, welche Zusammenhänge zur Tat etabliert werden und welches charakteristische polizeiliche Verstehensmuster und Kontextualisierungen der Tat sind. Sogenannt unilaterale Verstehenskonzepte werden selten verwendet; diese fokussieren auf die Tatperson (oder seltener: auf das Opfer) und kontextualisieren – als tatrelevant – deren Persönlichkeit (psychische Krankheit, negative Charaktermerkmale) oder die kulturelle Herkunft. Viel häufiger wird das bilaterale Verstehenskonzept der ‚schlechten Beziehung’ verwendet. Dies ist vor allem bei Intimbeziehungen – die mit zwei Drittel die Mehrheit der Tötungsdelikte im sozialen Nahruam ausmachen – regelmässig der Fall. Die Tat wird auf dem Hintergrund einer ‚schlechten Beziehung’ verstehbar gemacht, für die beide Seiten als gleichermassen verantwortlich angenommen werden: die Tatperson, meist der (Ehe-)Mann, ebenso wie das Opfer, das heisst meist die (Ehe-)Frau («it takes two to tango»). Äusserst bemerkenswert ist, dass das Konzept der häuslichen Gewalt in den Polizeiberichten keine Anwendung findet. Ob vorgehend zur Tötung zwischen Tatperson und Opfer eine von Gewalt und Kontrolle geprägte Beziehung stattgefunden hat, wird für die Tötungsdelikte nicht genauer untersucht und dokumentiert. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu internationalen Forschungsresultaten, die feststellen, dass bei Intimbeziehung häufig bereits vor der Tötung physische und psychische Gewalt stattgefunden hat. Die Diskrepanz ist erklärungsbedürftig: Wir stellen fest, dass der ermittelnden Polizei die Bedeutung häuslicher Gewalt als möglicher Tathintergrund/-zusammenhang nicht oder zu wenig bekannt ist, ebenso wie die Polizei Gewaltformen innerhalb von Beziehung nicht differenziert darstellt. Gewalt wird konzeptuell nicht als häusliche Gewalt, sondern als kulturelles Problem oder als Problem/Ausdruck der Persönlichkeit verstanden und dargestellt. Bemerkenswert ist sodann die Überzeugungskraft geschlechtsbezogener Argumentationen. Verletzungen traditioneller Geschlechternormen – insbesondere durch Frauen (weibliche Opfer) – bilden im textlichen Erzählfluss eine gebräuchliche Grundlage, um eine schlechte Beziehung zu plausibilisieren und als Hintergrund für eine Tötung verständlich zu machen. Die Analyse verdeutlicht, dass seitens der Ermittlung eine Bereitschaft besteht, die Perspektive der männlichen Tatperson, die solche Normverletzungen geltend macht, zu übernehmen und diese als überzeugenden Tatkontext zu konstruieren.

Publikation

Daniela Gloor, Hanna Meier: 'Von der Harmonie zur Trübung' - Polizeiliche (Re-)konstruktionen von Tötungsdelikten im sozialen Nahraum. Bern: Stämpfli & Cie AG, 2009

"Die Studie beleuchtet die polizeiliche Bearbeitung von Tötungen im sozialen Nahraum. Welche Informationen werden in der Berichterstattung für die nachfolgenden Behörden - Staatsanwaltschaft und Gerichte - als mitteilungswürdig erachtet und welche werden ausgelassen? Die beiden Soziologinnen rekonstruieren in ihrer empirischen Untersuchung die Deutungsleistungen und Narrationen der Polizei anhand von Aktenmaterial der Jahre 1995-2004. Sie arbeiten massgebende Themen und Konzepte heraus, die für die textliche Herstellung der Tatzusammenhänge verwendet werden. Als zentrales Ergebnis zeigen sie auf,
dass häusliche Gewalt (anders als z. B. in England) als möglicher Tathintergrund und bedeutsamer Kontext für das Tatgeschehen in der polizeilichen (Re-)Konstruktion
weitgehend ignoriert wird. Stattdessen nehmen traditionelle Beziehungskonzepte und Geschlechterbilder sowie essentialistische Konzepte von Persönlichkeit und Ethnizität eine wichtige Stellung ein. Weiter weisen die Autorinnen nach, dass versuchte Tötungen häufig nur oberflächlich dokumentiert werden. Die Studie ist hochaktuell und sowohl für PraktikerInnen als auch für JuristInnen und SozialwissenschafterInnen bedeutsam."

Kontakt

Hanna Meier +41 56 443 15 14

Forschungsprojekt

gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds

Projektteam
> Andrea Maihofer
> Daniela Gloor
> Hanna Meier

Laufzeit
Januar 2005 ~ April 2008