Dieses Projekt geht von der These aus, dass Sexualität wesentlich von Kultur und Gesellschaft geformt wird. Literarische Texte als zentraler Bestandteil von Kultur erzählen, je nach Epoche und Kontext in unterschiedlicher Weise, von Körpern, Liebe und Begehren. Anhand von 12 exemplarischen Texten von M. Frisch, G. Bachmann, V. Stefan, E. Jelinek bis M. Streeruwitz wird aufgezeigt, wie Körperlichkeit und Sexualität im Text konstruiert werden – gleichzeitig wird ein Augenmerk darauf gerichtet, wo die Grenzen des Sagbaren gezogen werden. Geschlechterverhältnisse kommen in sexuellen Imaginationen und Handlungen in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck. Im Rückgriff auf Gagnon und Simons Theoriebildung zu sexuellen Scripts (1973) wird Sexualität analytisch auf drei Ebenen untersucht: das intrapersonale Script repräsentiert sexuelle Fantasien, sexuelles Begehren und Wünsche, literarisch oft als innere Monologe zum Ausdruck gebracht; das interpersonale Script umfasst sexuelle Interaktion und deren Bedingungen; das kulturelle Script steht für diskursive Formationen, wer, wie, wann, mit wem und wo sexuell (inter-)agieren kann. Die Metapher des Palimpsests wird dazu genutzt, die drei Ebenen von sexuellen Scripts zu verbinden.
Theoretisch-methodisch ist die Untersuchung in Affect, Queer und Gender Studies angesiedelt. Die ausgewählten fiktionalen Texte der deutschen Literatur (1950-2010) werden mit aktueller Theoriebildung zu Sexualität in einen Dialog gebracht. Dabei wird die Prozesshaftigkeit sexueller Scripts im Spannungsverhältnis zwischen Macht, Angst und kreativer Transgression herausgearbeitet.
Das innovative Potential dieser Studie liegt darin, Literatur als einen fiktionalen, kulturellen Raum zu deuten, der von bestätigenden und brüchigen Um-Schreibungen dominanter Sexualitätsdiskurse geformt wird und dabei gleichzeitig Leserinnen und Leser in ihrer Entwicklung von sexuellen Scripts formt. Die Studie verknüpft die sozialwissenschaftliche Theoretisierung von sexuellen Scripts mit narratologischen literaturwissenschaftlichen Ansätzen wie Ricoeurs Konzept der narrativen Identität. In der Verbindung mit der Metapher des Palimpsests werden sexuelle Scripts so als transdisziplinäre Analyseinstrumente für die kulturwissenschaftlichen Gender Studies fruchtbar gemacht. Mit Bezug auf die Critical Sexualities Studies versteht diese Arbeit Sexualität als prozesshaft, variabel und von Kultur und Geschichte geprägt. Sie folgt dem Desiderat, Sexualität als gesellschaftliche Ordnungskategorie stärker in den Fokus der Gender Studies zu rücken. Dies soll ihrer Essentialisierung entgegenwirken und zu einer vertieften Reflexion führen, wie sich Sexualität in unsere Leben und unser Handeln einschreibt.
Projektteam
Christa Binswanger
Förderung
SNF Marie Heim-Vögtlin
Publikation
2020
Keywords: Sexualität, Critical Sexualities Studies, Sexual Script, Pallimpsest, Narratologie, Narrative Identität, Intimität, Neuere Deutsche Literatur