Kritik der Geschlechterordnung
Selbst-, Liebes- und Familienverhältnisse im Theater der Gegenwart
Andrea Zimmermann
Allerorts wird der Mangel an ‚Welthaltigkeit’ zeitgenössischer Theatertexte beklagt: „Was das sein soll ist schon klar. Welthaltigkeit, das meint mit einem Wort die großen Figuren, die großen Themen, die unbedingte Zeitgenossenschaft und selbstverständlich die Relevanz“, so spitzt es Peter Michalzik im Rahmen des Symposiums Schleudergang Neue Dramatik (Berliner Festspiele 2009) Dramatik süffisant zu. Zweifel, ob Theatertexte es vermögen, adäquat auf die derzeitigen „differenzierte[n] Gesellschaftsstrukturen“ zu reagieren, sind nicht neu: So vertraut das postdramatische Theater vor allem auf künstlerische Strategien bezogen auf die performance-Qualitäten des Bühnengeschehens, wie die Authentizität von Laien, um sich den komplexen Verhältnissen zu stellen – nicht jedoch auf die Möglichkeiten des Theatertextes.
Unterzieht man zeitgenössische Theatertexte allerdings einer näheren Betrachtung, so zeigt sich, dass diese Texte längst selbst postdramatische Anteile haben und performatives Potential sichtbar werden lassen, die vielschichtigen und oft widersprüchlichen Machtverhältnisse, die unsere Existenzweise durchziehen, hegemoniekritisch zu reflektieren.
Im Rahmen des Dissertationsprojekts werden 15 deutschsprachige Theatertexte, die in den letzten zehn Jahren von der jüngsten Generation von Theaterautor_innen (geb. nach 1975) geschrieben wurden, daraufhin untersucht, auf welche Weise Hegemoniemuster einer Kritik unterzogen werden. Kritik schließt in diesem Sinne an Michel Foucaults Begriff der ‚Entunterwerfung’ an und meint die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Macht und Wissen zu reflektieren und den Versuch zu wagen, „in den Wahrheitsdiskurs einzugreifen, und ihm mithilfe seiner eigenen Mittel eine neue Ausrichtung zu geben“ (Was ist Kritik 1992: 11f.). Davon ausgehend, dass eine Gesellschaftsordnung immer auch eine Geschlechterordnung ist, wird die multidimensionale Kategorie gender zum Ausgangpunkt der Textanalyse genommen: Ausgangsfragen sind demnach: Wie werden Möglichkeitsräume geschlechtlicher Existenzweisen als normativ reguliert ausgestellt und wie wird die Produktion von ‚Wahrheiten’ über Geschlecht offengelegt? Wie werden Prozesse von Normalisierung und Othering und Grenzen der Intelligibilität sichtbar gemacht oder überschritten? Als primäre Subjektivationsorte einer vergeschlechtlichten Existenzweise haben sich folgende thematische Schwerpunkte hinsichtlich einer sozialgeschichtlichen und diskursanalytischen Herangehensweise ergeben: Verkörperungen, Begehrensstrukturen, Intimität/ Sexualität, Familienordnungen und die Verortung in umfassenderen politischen Gemeinschaften.
Um neue Möglichkeiten des Existierens denk- und lebbar zu machen, schlägt Judith Butler vor, an den Inkohärenzen und Bruchstellen, die Wahrheitsregime notwendigerweise hervorbringen, anzusetzen. Luce Irigaray hat dieses kritische Durchqueren der hegemonialen Diskurse das ‚Spiel der Mimesis’ genannt: Dieses Modell feministischer Kritik knüpft an die bestehende symbolische Geschlechterordnung, ihre Hierarchien und geschlechtlich konnotierten Zuschreibungen an, um sie jedoch gleichzeitig durch eine Geste der Ermächtigung umzuschreiben. Nach einer ersten Sichtung des Materials scheint es hilfreich, die Kritik an hegemonialen Subjektivierungsformen anhand der so skizzierten Bewegung einer Imitation und gleichzeitigen Verschiebung der Geschlechterordnung in den Blick zu nehmen. So kann die vielfach konstatierte Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel der Geschlechterverhältnisse sowohl auf diskursiver als auch auf poetischer Ebene herausgearbeitet werden. Dazu muss zunächst die ‚Wahrheit’ dieser Ordnung umrissen werden, um anschließend aufzuzeigen, wie die einzelnen Texte dieses selbstverständliche Wissen in einem ‚Spiel der Mimesis’ infrage zu stellen vermögen.
Ein solcher Forschungsansatz soll es ermöglichen, nicht nur die ‚Welthaltigkeit’ der in den Blick genommenen Texte herauszuarbeiten, sondern auch einen Eindruck davon verschaffen, wie diese Texte Grenzen unserer Vorstellungswelten auszuloten vermögen und selbst Teil eines möglichen Transformationsprozesses sein können, der neue Welten denkbar macht.
Dieses Buch basiert auf einer Promotion in Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich (2014) mit dem Titel "Widerspenstige Selbstbehauptungen. Hegemoniekritische Gender-Poetologien zeitgenössischer Theatertexte" und wurde von Prof. Dr. Franziska Frei Gerlach (Universität Zürich) sowie Prof. Dr. em. Andrea Maihofer begutachtet.